21.5.–10.9.23

Der Common Ground als Garten als Muddle

Essay von

Julia Grillmayr

Wir trafen uns in einem Garten, wahrscheinlich unter einem Baum. Oder war’s in einem Flugzeug? Wohl kaum, wohl kaum. 2Raumwohnung, Wir trafen uns in einem Garten (2001)

«Jemand fragt: ‹Was machst du heute?› Und du antwortest: ‹Ich bin in der Natur.› ... Wo bist du?» Diese Frage stelle ich meinen Studierenden und bitte sie, ein paar Situationen zu schildern. Einer Person fällt sofort ein Ort im Wald ein. Eine andere beschreibt einen Bach, der unter einer Autobahnbrücke fliesst, wo Leute regelmässig auf Biber treffen. Gleich ein paar Stimmen erzählen von einem wild verwachsenen Eck in ihrem Garten, wo Igel rascheln und manchmal Erdkröten zu sehen sind.

Ich unterrichte an drei unterschiedlichen Universitäten in Österreich, die sich alle in Städten befinden. Meine Seminare sind oft im Bereich der Environmental Humanities angesiedelt, beschäftigen sich also mit mehr-als-menschlichen Ökologien. Man könnte annehmen, dass die Definition dessen, was Natur ist, in den ersten Stunden eines solchen Seminars geklärt werden sollte. Allerdings – Sie*1 ahnen es schon – ist dies gänzlich unmöglich. Die zeitgenössische, feministische Kulturwissenschaft, die wir* hier gemeinsam lernen, lässt uns* diese Grenze zwischen «Natur» und «Kultur» überhaupt nicht ziehen, sondern besteht darauf, dass wir* immer schon Teil von Naturkulturen waren. Auf dieser Erkenntnis baut unser Austausch auf. Das ist unser Common Ground, aber es ist keiner, auf dem wir uns* ausruhen können. Vielmehr ist es ein sumpfiger Boden, der uns* zwingt, ständig in Bewegung zu bleiben, wenn wir* nicht einsinken wollen. Donna Haraway würde von einem muddle sprechen, einer «materiell-semiotische[n] Kompostierung», einer «Theorie in Schlamm und Durcheinander».2

Gleichberechtigt und spezifisch anders

Donna Haraway ist eine US-amerikanische Philosophin und Theoretikerin und prägte den Begriff der Naturkulturen (naturecultures); ohne Bindestrich geschrieben, so dass man erst gar nicht auf die Idee kommt, dass es sich um getrennte Sphären handeln könnte. Er taucht erstmals in ihrem Manifest für Gefährten auf, in dem sie über speziesübergreifende Verwicklungen nachdenkt und dazu von einer ganz spezifischen und persönlichen Fallstudie ausgeht, nämlich von der Beziehung zu ihrer Hündin Cayenne: «Ich bin sicher, dass unsere Genome sich mehr ähneln als sie sollten. Es muss in den Codes des Lebens eine molekulare Aufzeichnung unserer Berührung geben, die Spuren in der Welt hinterlassen wird.»3 Haraway nennt Cayenne in diesem Zusammenhang eine Forschungsassistentin. Sie vergisst dabei aber nicht, dass sie in einer ganz anderen Situation ist als ihr Haustier, das einen anderen Körper, eine andere Lebensweise und -spanne sowie unterschiedlich ausgeprägte Sinne hat, andere Freiheiten geniesst und anderen Zwängen ausgesetzt ist. Haraway entwickelt hier ein für das Denken von Naturkulturen zentrales Konzept: signifikante Andersartigkeit (significant otherness).4 Es ist keine einfache Gleichung – Natur = Kultur beziehungsweise Hund = Mensch –, die Haraway vorschlägt, sondern eine genaue Auseinandersetzung mit den Elementen, die uns* – menschliche und nicht-menschliche Tiere – ausmachen. Diese Elemente haben mit unseren* Anatomien, Geschichten und Traditionen zu tun, mit unserer* Evolution, Lebensweise und Zusammenlebensweise – und sie bleiben ständig in Bewegung. Nun könnte man sagen, dass es sich Haraway einfach macht, wenn sie, um über Naturkulturen zu schreiben, von Cayenne ausgeht. Bei Haushunden, Canis lupus familiaris, handelt es sich um eine domestizierte Art, die durch Menschen hervorgebracht wurde – und die wiederum menschliche Lebensweisen seit Jahrtausenden prägt. Vielleicht stellen uns* diese Gefährten aber gerade darum vor besonders komplizierte Fragen. Der Begriff der Natur ist für uns* an Begegnungen mit mehr-als-menschlichen Landschaften geknüpft; das zeigt auch die oben genannte, kurze Umfrage im Seminar. Niemandem von uns* wäre allerdings eingefallen, die Interaktion mit unseren* Haustieren als Beispiel für eine Naturbegegnung zu nennen.

Ich muss Ihnen* hier kurz erläutern, warum uns* die Fragen nach dem Wo der Natur – und insbesondere die Antworten, die uns* spontan dazu einfallen – überhaupt interessieren: Wir* befinden uns* in einer Lehrveranstaltung über Artensterben und lernen über kulturwissenschaftliche Zugänge die aktuelle Biodiversitätskrise zu begreifen. Wir* diskutieren dabei auch viel über «Renaturierung» und «Naturschutz», wobei immer wieder das Problem auftaucht, dass es unglaublich schwierig ist, zu konkretisieren, was geschützt werden soll. Wir* lesen etwa von «invasiven Arten», die «heimische» beziehungsweise «ursprüngliche» Arten verdrängen. Und wenn man schon einmal das Wort «Ursprung» in den Mund genommen hat, wird die Sache erst recht vertrackt. Hier erscheint die Natur in einer Form, die zwar seit Jahrzehnten kritisiert und hinterfragt wird, die sich aber hartnäckig in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben hat: als imaginierter Garten Eden.

Imaginärer Ursprung

Die Natur als einen ursprünglichen Zustand, unberührt und ungestört von «dem Menschen» zu denken, ist kein guter Ausgangspunkt. Der Garten Eden ist ein viel zu schmaler Common Ground. Die von Büschen und Bibern unterwanderte Autobahnbrücke hat hier sicherlich keinen Platz. Allerdings zählt auch die Lichtung im Wald nicht dazu. Sie* haben sich zwar eine Weile durch das Dickicht schlagen müssen, um sie zu erreichen, aber wenn Sie* genau hinhören, sind da eine Motorsäge oder andere Menschen wahrzunehmen ... und liegt hier nicht die Verpackung eines Müsliriegels? Vielleicht fällt der Wald aber auch schon viel früher aus der Definition der Garten-Eden-Natur, weil er erst seit 200 Jahren wächst und immer wieder abgeholzt und aufgeforstet wurde; vielleicht auch deshalb, weil hier ganz andere Pflanzenarten wachsen als noch vor 50 geschweige denn 500 Jahren. Oder ist dieser Wald von vornherein «unnatürlich» entstanden, nämlich dadurch, dass die schwindende Eiszeit und frühe Menschen der Megafauna, die hier graste, vor circa 30 000 Jahren ein Ende bereiteten? Rechnet man Menschen aus der Natur heraus, hat das nicht nur verheerende politische Folgen, etwa, dass Menschen zur Schaffung von Naturschutzzonen aus Gebieten vertrieben werden, die sie seit Jahrtausenden bewohnten; es führt auch Umweltschutz ad absurdum, denn den gesuchten Ursprung bekommt man nie zu fassen. Es gibt keinen unschuldigen Garten Eden, zu dem man zurückkehren könnte.

Dennoch ist der Ort beziehungsweise die Figur des Gartens in Zusammenhang mit dem Begriff Naturkultur interessant – und er kommt auch bei Donna Haraway vor. «[W]ie die Kreationen einer dekadenten Gärtner*in, die nicht gut zwischen Naturen und Kulturen differenzieren kann, sieht die Form meines Verwandtschaftsnetzes mehr wie ein Flechtwerk oder eine Esplanade aus als wie ein Baum. Oben und unten sind nicht zu unterscheiden und alles scheint seitwärts zu verlaufen», schreibt sie in Das Manifest für Gefährten: «Mein Garten ist voller Schlangen, voller Verflechtungen, voller Nicht-Richtung.»5 Der Garten taucht auch in unserem* Seminar mehrmals auf, wobei nicht die menschliche Gestaltung hervorgehoben wird, die diesen Ort massgeblich charakterisiert, sondern die Überraschung: Plötzlich taucht eine Erdkröte auf, ein Buntspecht ist zu hören, ein Igel wurlt vorbei. Was wir* erzählen, sind die Begegnungen mit sogenannten Wildtieren. Hier stossen wir* auf einen weiteren Begriff, der so faszinierend wie problematisch und missbrauchsanfällig ist: «Wildheit» wurde so oft als Gegenbild zum «zivilisierten Mann» entworfen und als Argument benutzt, um bestimmten Menschen und Landschaften das Existenzrecht zu entziehen, dass die Frage, ob wir* überhaupt noch von «Wildem» sprechen sollten, sehr berechtigt ist. In (öko-) feministischen Diskursen taucht «die Wildnis» dennoch immer wieder auf.

Der frühe, US-amerikanische und grösstenteils weisse Ökofeminismus der 1970er- und 1980er-Jahre wollte den Wildnis-Begriff gegen den «zivilisierten Mann» positionieren, um seine Gewalt gegenüber der mehr-als-menschlichen Umwelt und gegenüber Frauen aufzuzeigen. Allerdings wurde dabei oftmals «Frau» mit «Natur» gleichgesetzt, was dem feministischen Projekt diametral entgegensteht. Wenn Donna Haraway ihr Cyborg Manifesto mit dem Satz schliesst, dass sie «lieber eine Cyborg als eine Göttin»6 wäre, dann so, um auf diesen ökofeministischen Zirkelschluss – und die unkritische Technikfeindlichkeit dieser Bewegung – hinzuweisen.

Wildnis als Offenheit und Überraschung

Auch im Cyborg Manifesto wird die Idee der Natur als eines ursprünglichen Gartens verworfen: «[Die Cyborg] würde den Garten Eden nicht erkennen, sie ist nicht aus Lehm geformt und kann nicht davon träumen, wieder zu Staub zu werden.»7 Auch die Wildtiere, die wir antreffen, sind freilich keine Bewohner*innen eines Garten Edens. «Die nicht-menschlichen Körper, die wilde Gebiete bewohnen, sind mit den gleichen Giften gespickt wie unsere eigenen menschlichen Körper, da diese Gifte überall sind und sich im Wasser, in der Luft und im Gewebe von lebendigen, reisenden Wesen verbreiten», schreibt Stacy Alaimo, eine der spannendsten Stimmen des zeitgenössischen Ökofeminismus.8 Wenn auch Alaimo noch von Wildnis (wilderness) spricht, dann in voller Anerkennung, welch hochgradig problematische und brutale Kolonialgeschichte dieser Begriff hat. Wenn die Wildnis hier auftaucht, dann nicht als ein vom Menschen völlig getrenntes Gebiet, sondern als ein Plädoyer dafür, dass auch inmitten stark menschlich gestalteter Landschaften (Stichwort Anthropozän) nicht-menschlichen Bewohner*innen mehr Platz eingeräumt werden sollte: «Wildheit kann definiert werden als die ständigen materiell-semiotischen Intra-Aktionen der Natur – Aktionen, die Menschen durchaus überraschen, ärgern, erschrecken und verblüffen können, aber die dennoch von Umweltschützer*innen geschätzt werden, weil sie das Leben ausmachen.»9 Wenn Stacy Alaimo von Wildnis spricht, dann nicht, um den Common Ground einzuzäunen und zu ordnen, sondern um ihn zu erweitern. Sie fordert mehr Raum für nicht-menschliche Machenschaften, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen – im Sinne von mehr Raum auf der Erdoberfläche, aber gleichzeitig auch mehr Raum im Denken. Sie spricht von geräumigeren Epistemologien (capacious epistemologies), die sich auf ungewohnte Wissensformen – vielleicht eine hündische Forschungsassistentin? – einlassen und für Überraschungen offen bleiben.

Auch die US-amerikanische Journalistin und Autorin Emma Marris argumentiert, dass gerade, weil so gut wie alle Landschaften von Menschen geformt und dominiert sind, es wichtig sei, unser Verständnis von Natur so geräumig wie möglich zu halten. In ihrem Buch Rambunctious Garden reisst sie Zäune insofern nieder, als dass sie die ganze Welt zum wilden, ungestümen Garten erklärt.10 Wenn wir ihre Frage nach dem Wo der Natur allein mit Ausflügen in Nationalparks beantworten, wo man auf dem Pfad bleiben muss und kein Häuschen aus Ästen bauen darf, werden wir unsere* Kinder nicht sonderlich beeindrucken oder für Umweltschutz motivieren können, argumentiert Marris und rät jungen Stadtbewohner*innen, über Zäune zu klettern, um auf überwachsenen Industrie-Ruinen, mitten in der Stadt, Füchse zu beobachten.

Als Common Ground gedacht wirft der Garten natürlich auch Fragen nach Teilhabe und nach Besitz auf. Eines der häufigsten Merkmale von Gärten ist nämlich gemeinhin, dass sie von Zäunen umringt sind. Der Garten wird traditionellerweise als geschlossene oder zumindest eingegrenzte Fläche verstanden; als hortus conclusus. Zugang zu Flächen, wo sich mehr-als-menschliche Wesen ausbreiten können, muss erkämpft und politisch eingefordert werden – für Menschen und Nicht-Menschen. «Wenn mich Leute fragen, was sie tun sollen, um die Beziehung zwischen dem Land und den Menschen wiederherzustellen, dann sage ich fast immer: ‹Pflanzt einen Garten!›», schreibt Robin Wall Kimmerer, eine US-amerikanische Pflanzenökologin und Angehörige der Potawatomi, eines indigenen Volks Nordamerikas.11 Auch sie denkt an einen Garten als Common Ground sowohl im übertragenen als auch im materiellen Sinne: «Ein Garten ist eine Kinderstube für nährende, fürsorgliche Verbindungen, der Nährboden für die Kultivierung einer praktischen Ehrerbietung. Und seine Kraft geht weit über das Gartentor hinaus – hast Du einmal eine Beziehung zu einem kleinen Flecken Erde aufgebaut, wird dieser selbst zum Samen. Etwas Wesentliches passiert in einem Gemüsegarten. Es ist ein Ort, wo du ‹Ich liebe Dich› sagen kannst, wenn nicht laut, dann mit Samen. Und das Land wird dir antworten, in Bohnen.»12

Julia Grillmayr

(*1987 in Wien, Österreich) ist freie Journalistin und Kulturwissenschafterin. Sie hat in Vergleichender Literaturwissenschaft promoviert und forscht und lehrt aktuell im Bereich der Kulturwissenschaften an verschiedenen österreichischen Kunstuniversitäten, vorwiegend zu schlammigen Themen wie (Öko-)Feminismus, Science-Fiction und den Wiener Donauauen.

Literatur

1

*Das Wir, das dieser Text benutzt, ist ein fiktiver Common Ground. Es bezieht sich mal auf meinen Austausch mit Studierenden, mal auf ein Sprechen zu Ihnen* als imaginierten Leser*innen. Es ist ein Wir, das europäisch und bürgerlich-akademisch geprägt und um Offenheit bemüht ist. Um niemals unhinterfragt zu bleiben unterbricht es sich selbst mit einem Sternchen.

2

Donna Haraway, Unruhig bleiben. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2018, S. 49.

3

Donna Haraway, Das Manifest für Gefährten. Leipzig: Merve Verlag, 2016, S. 8.

4

Ebenda, S. 9.

5

Ebenda, S. 15–16.

6

Donna Haraway, «Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften», in: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, hrsg. von Karin Bruns und Ramón Reichert. Bielefeld: Transcript Verlag 2007, S. 72.

7

Ebenda, S. 36.

8

Siehe dazu: Stacy Alaimo, «Trans-Corporeal Feminisms and the Ethical Space of Nature», in: Material Feminisms, hrsg. von Stacy Alaimo und Susan J. Hekman. Bloomington: Indiana University Press 2008, S. 258. Übers. von Julia Grillmayr.

9

Ebenda, S. 249.

10

Siehe dazu: Emma Marris, Rambunctious Garden. Saving Nature in a Post-Wild World, London: Bloomsbury Publishing 2013.

11

Siehe dazu: Robin Wall Kimmerer, Braiding Sweatgrass. Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants. Milton Keynes: Ingram Publishers 2014, S. 126. Übers. von Julia Grillmayr.

12

Ebenda, S. 126-127.