21.5.–10.9.23

Die Kunst der Anderen. Interventionen für eine brüchig gewordene Realität

Essay von

Hevin Karakurt

Wir sprechen über Common Ground meist als gemeinsame Grundlage in Bezug auf bestimmte Inhalte, Themen oder Weltanschauungen. So lesen wir in historischen Wörterbüchern aus dem englischsprachigen Raum, dass «Common Ground» seit dem 16. Jahrhundert als «Basis gegenseitigen Interesses oder Übereinkommens»1 verstanden wird, und zwar «zwischen zwei oder mehr Parteien».2 Das Aushandeln dieser gemeinsamen Basis ist also notwendiger Bestandteil sowohl zwischenmenschlicher als auch gesellschaftlich-politischer Kommunikation. Was Common Ground ist, beeinflusst folglich auch den öffentlichen Diskurs über Themen, indem er bestimmt, welche Elemente wir als vorausgesetzt annehmen und welche noch auszuhandeln sind.

Was aber, wenn nicht das Verhandeln bestimmter Themen und Weltanschauungen einer gemeinsamen (Wissens-)Grundlage bedarf, sondern die Annahme einer überindividuell geteilten Realität als Voraussetzung für jeden Common Ground? Dann wird «die Realität» als objektiv feststellbare brüchig. So scheint es zumindest in einem Bogen von der Postmoderne hin zum «postfaktischen Zeitalter», in dem Halbwahrheiten, «alternative Fakten», Fake News und Verschwörungstheorien Konjunktur haben.3 Diese sind unlängst Teil alltäglicher Debatten geworden: von Impfrisiken über die Topografie der Erde bis hin zur Leugnung des Holocausts. Auch der gesellschaftliche Konsens in Bezug auf Menschenrechte ist weit davon entfernt, überall den gleichen emanzipatorischen Tendenzen zu folgen. Während wir vielerorts so viele Rechte zum Schutz marginalisierter Gruppen institutionalisiert haben wie noch nie, sehen wir zugleich die weit verbreitete Erstarkung des Rechtspopulismus, autoritärer Regime, religiöser Fundamentalismen und das Aussetzen internationalen Rechts. Letzterer Aspekt wird zum Beispiel bei der Seenotrettung im Mittelmeer deutlich, dessen «geteilter Grund» zum Friedhof von Menschen und Menschenrechten zugleich wird. Die vermeintlichen «Errungenschaften der säkularen, aufgeklärten Welt» werden von dieser also sogleich wieder ausgehebelt. In Bezug auf ökologische Themen erlebt gesellschaftlicher Konsens momentan schwierige Zeiten, wenn Atomenergie in Europa plötzlich wieder als grün gilt, aber «Klimakleber» für mehr Empörung sorgen als der Umstand, dass Ölkonzerne letztes Jahr Rekordgewinne zu verzeichnen hatten. All diese Beispiele zeigen, dass es weitreichende Folgen für Mensch und Umwelt hat, welchen Common Ground wir als globale und lokale Gesellschaft(en) teilen. Zudem wird klar, wie fluide dieser sein kann und dass es kaum geteiltes Wissen gibt, das unabhängig von örtlichen und zeitlichen Dimensionen Bestand hat.

Historische Dimensionen einer Verunsicherung

Allerdings mag der Eindruck täuschen, dass es sich bei der Verständigung über eine gemeinsame Realität um ein Problem der aktuellen Zeit handelt. Es liegt mehr im Medium der Sprache selbst begründet als am Aufkommen digitaler Räume oder sozialer Medien, dass Verständigungsprobleme über eine global geteilte Welt bestehen. 1902 schreibt Hugo von Hofmannsthal in seinem Brief des Lord Chandos:

«Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen [...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naurgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.»4

Es handelt sich hier um einen fiktiven Brief eines fiktiven Dichters, der seither als eines der meist zitierten Zeugnisse der sogenannten «Sprachkrise» gilt.5 Folgende Prämisse wird hier infrage gestellt: Kann man sich wirklich mit Sprache verständigen, gibt sie tatsächlich (die) Wirklichkeit wieder?

Entwicklungen in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts führen zu weitreichenden Verunsicherungen. Ferdinand de Saussure stellt die Zufälligkeit und Willkür der Beziehung zwischen dem Wort und dem, was es bezeichnet, dar.6 Eine direkte, in der «Natur der Dinge» begründete Beziehung zwischen Sprache und Welt wird dadurch grundlegend erschüttert und als konstruiert herausgestellt. Weitere Entwicklungen in der Theorie des Erzählens lenkten die Aufmerksamkeit auf den Einfluss des «point of view», von dem aus erzählt wird. Ob in der Sphäre der Fiktion oder jener des Journalismus: Es steht jede Form von narrativierter Sprache unter dem Verdacht, ihren Gegen- stand verzerren oder zumindest rahmen, «framen», und dadurch ihre Rezipient*innen manipulieren zu können. Die (post-)moderne Vorstellung, dass Realität ausschliesslich durch unsere Sinne wahrnehmbar und nur durch unsere – vor allem sprachlichen – Ausdrucksmöglichkeiten wiederzugeben sei, kann als Wegbereiterin für Relativierungen jeder Aussage über «die» Welt und «die» Realität betrachtet werden.7 Damit geht einher, dass wir auch zu uns selbst als Subjekte, die «Ich» sagen, nur einen vermittelten Zugang haben können. Das Subjekt erscheint als ebenfalls – grundlegend sprachlich – gefasstes Konstrukt, das nicht natur- oder gottgegeben ist, sondern von uns selbst und anderen stetig diskursiv neu gesetzt wird.

Repräsentationsmöglichkeiten und Teilhabe

Dies hat weitreichende Folgen für die Vorstellung einer Gesellschaft, deren politisches System auf der Idee der Teilhabe und Repräsentation beruht und die sich folglich über eine gemeinsame Realität verständigen können muss. Common Ground ist also fundamentaler Bestandteil von Demokratien, deren politische Führung sich als repräsentativ für die Bevölkerung betrachtet und aus dieser Vorstellung ihre Macht legitimiert. Damit wird zur zentralen Frage, wer durch wen überhaupt vertreten werden kann. Geht es um die Ausdrucksmöglichkeiten marginalisierter Menschen, hat wohl kaum ein Text mehr Aufmerksamkeit generiert als der Aufsatz Can the Subaltern Speak? von Gayatri Chakravorty Spivak.8 Entscheidend für Spivaks Überlegungen Ende der 1980er-Jahre ist das «Ich- Sagen» als Voraussetzung, die eigene Existenz zum Ausdruck zu bringen und somit auch basale Rechte einzufordern. Diese reichen von politischer Teilhabe und Repräsentation via Stimm- und Wahlrecht bis hin zu den als universell festgehaltenen Rechten der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte». Allerdings geht das Ich-Sagen mit der Annahme einer Gleichheit der Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten aller Menschen einher, die in der Realität nicht vorhanden ist und jene zum Verstummen bringt, denen man mit dieser Idee gar eine Stimme geben wollte. Hier liegt auch die Gefahr einer Repräsentation, die sich als Vertretung versteht, da es ein «Sprechen für» eine Gruppe nicht geben kann, ohne die eigene Sprechposition zu reflektieren. Erkennt man aber jede Repräsentation auch als ästhetische Darstellung, eröffnet dies die Möglichkeit einer umfassenderen Betrachtung der Repräsentationsmöglichkeit jeden Subjekts als zumindest doppelte, die mit (politischem) Vertreten ebenso wie mit (ästhetischer) Darstellung zu tun hat: die adäquate Repräsentation auf politischer Ebene (Vertretung) und die Möglichkeiten, sich als Subjekt selbst auszudrücken beziehungsweise (ästhetisch) darzustellen. Auf der Ebene der Darstellung spielen auch künstlerische Formen eine Rolle.9 Das «Sprechen» im Titel des Aufsatzes bezieht sich also auf die Möglichkeiten des «unterdrückten Subjekts», sich selbst als Subjekt zu platzieren, und meint damit ein Sprechen, dem politische Handlungsfähigkeit eingeschrieben ist. Spivak verneint die Titelfrage nach dem Sprechvermögen der Subalternen zuletzt. Nicht, weil diese Menschen keine Subjekte wären, die sprechen können, sondern weil sie von denen, die sie vermeintlich repräsentieren, nicht gehört werden.

Politik und Ästhetik, oder: Kunst und Common Ground

Unser Zugriff auf die Realität ist also hochgradig subjektiv, geprägt von kultureller und sprachlicher Sozialisierung, von Bildung, Überzeugungen und vielem mehr. Gerade dadurch kommt der Kunst das Privileg zu, ihre Rezipient*innen an einer Sicht auf die Welt teilhaben zu lassen, die diesen andernfalls verschlossen bliebe. Über die Metapher von Kunst als Spiegelbild der Gesellschaft hinausgehend bietet sie auch Darstellungs- und Verhandlungsraum neuer Möglichkeiten, mit Herausforderungen unterschiedlichster Art umzugehen. Als Beispiel sei hier das «Post-migrantische Theater» von Shermin Langhoff genannt, aus dem der viel diskutierte Begriff der postmigrantischen Gesellschaft hervorging. Langhoff prägte den Begriff im Jahr 2008 am Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Die dortige Produktion wollte explizit nicht als «migrantisches Theater» verstanden werden, sondern als eines, das die heutige plurale Gesellschaft reflektiert. Aus dieser sind Prozesse der Migration nicht wegzudenken. Im Gegenteil, Geschichten von Migrant*innen sind nicht als das Andere von deutscher Identität und Kultur zu betrachten, sondern als wichtiger Bestandteil dessen, was heute «Deutsch» ist.10 Damit haben künstlerische Auseinandersetzungen zugleich das Potenzial, Annahmen und Vorstellungen über Identitäten ebenso wie über gesellschaftlichen Common Ground zu hinterfragen und zu aktualisieren. Im Anerkennen der anderen Realität als zwar verschieden von der eigenen, aber trotzdem bezogen auf dieselbe Welt, liegt das Potenzial, jene Werte, die wir pflegen, zu reevaluieren.

Und doch: Künstlerische Interventionen ersetzen nicht politische Repräsentation. Damit ist nicht nur ein «Sprechen für» von wohlmeinenden Vertreter*innen gemeint, sondern auch Möglichkeiten einer (Selbst-)Darstellung im Rahmen kultureller, gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Das Subjektive jedes einzelnen Werks ist eine Erinnerung daran, dass es keine einfache Verallgemeinerung geben kann und dass jede Stimme einen anderen Beitrag zur zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verständigung leistet. Kunst – ob bildende oder darstellende, Musik oder Literatur – bietet ihren Erzeuger*innen und Rezipient*innen die Freiheit, die Restriktionen der Realität hinter sich zu lassen und zugleich neue Perspektiven einzunehmen und alte radikal zu hinterfragen. Geht es um die Frage, wie marginalisierte Stimmen sich in der öffentlichen Debatte Gehör verschaffen können, eröffnet Kunst also Räume der Verhandlung individueller und kollektiver Identitäten und letztlich dessen, was überhaupt als Realität wahrgenommen und geteilt werden kann.

Hevin Karakurt

(*1993 in Aarau) lebt und arbeitet in Basel. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaften an der Universität Basel. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SNF-Projekt «Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ‹postfaktischen Zeitalter›» unter der Leitung von Nicola Gess. In ihrer Forschung widmet sie sich Fragen der Dokufiktion, Subjektivität, Identität und Repräsentation in Fiktion sowie interkulturellen und transnationalen Fragen der deutschsprachigen, anglophonen und kurdischen Literatur.

Literatur

1

«Common Ground» in: Merriam-Webster Dictionary, www.merriam-webster.com/dictionary/common%20ground, Übers. von Hevin Karakurt.

2

«Common Ground» in: OED Online, www.oed.com/view/Entry/37216, Übers. von Hevin Karakurt.

3

Siehe dazu: Nicola Gess, Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes & Seitz 2021.

4

Hugo von Hofmannsthal, Der Brief des Lord Chandos, hrsg. von Fred Lönker. Ditzingen: Reclam 2019, S. 12.

5

Siehe dazu: Rudolf Helmstetter, «Entwendet. Hofmannsthals Chandos-Brief, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise», in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003), S. 446–480.

6

Siehe dazu: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter 1967.

7

Siehe dazu: Carolin Amlinger, «Rechts dekonstruieren. Die Neue Rechte und ihr widersprüchliches Verhältnis zur Postmoderne», in: Leviathan 48/2 (2020), S. 318–337.

8

Gayatri Chakravorty Spivak, «Can the Subaltern Speak?», in: Marxism and the Interpretation of Culture, hrsg. von Cary Nelson und Lawrence Grossberg. London: Macmillan 1988, S. 271–313.

9

Ebenda, S. 275 f.

10

Siehe dazu: Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: Transcript Verlag 2019, S. 46.