21.5.–10.9.23

Sam Falls

Sam Falls verbringt seine künstlerische Arbeitszeit in der Natur. Er schafft Malerei und Skulpturen, die von längeren Entstehungsprozessen und natürlichen Elementen geprägt sind. Er legt Blumen, Äste oder Steine auf Leinwände und erzeugt mit der Einwirkung von Wind, Licht, Erde und Farbpigmenten Repräsentationen der Natur, oftmals mit Bezug zur Kunstgeschichte. Seine Praxis ist der radikalen Langsamkeit und Hingabe verpflichtet. Die Natur ist für den Künstler sowohl Arbeits- als auch Zufluchtsort. Dabei sucht er nicht nach Naturromantik, sondern nach einem hoffnungsvollen, persönlichen Handlungsspielraum, nicht zuletzt angesichts der Klimakrise.

Heilung und der harmonische Umgang mit der Natur stehen im Zentrum des Healing Pavilion. Die Skulptur bietet zwei einander gegenüberliegende Sitzmöglichkeiten, welche die Besucher*innen dazu einladen, sich in eine intime Unterhaltung mit anderen Menschen oder allein n Meditation und Ruhe zu begeben. Die Sitze und Träger, aus denen das Werk besteht, sind mit Terrazzo aus Edelsteinen anstelle traditioneller Materialien wie Marmor, Muscheln oder Glas gefüllt. Jeder Träger beinhaltet bestimmte Steine mit heilenden Eigenschaften, die allein oder in Kombination mit den anderen ihre Wirkung entfalten. Terrazzo wird seit der Antike als Bodenbelag für Bauten verwendet und wirkt hier sowohl auf die unmittelbare Umgebung – etwa mit «bedingungsloser Liebe, auch für Steine darunter» – als auch auf die Besucher*innen, die sie berühren und in der Skulptur sitzen. So spricht Sam Falls von der Koexistenz von Mensch und Natur.

Untitled (Healing Pavilion: calm and balance, peaceful sleep, soothes frayed nerves, endo- crine system healing, mental organization, stress relief, patience, helps kidney function and fatigue, writer’s block and truthfulness, overcoming fear, and unconditional love, respectively to stones below), 2015; Edelstein-Terrazzo, Stahl; Courtesy der Künstler und Galerie Eva Presenhuber, Wien/Zürich

Martina Lussi

In ihrer künstlerischen Praxis widmet sich Martina Lussi dem aufmerksamen Hin- und Zuhören. Die Aufnahmen für den Soundwalk Weiertal entstanden während eines Spaziergangs vom Bahnhof Wülflingen zum Kulturort. Wir hören eine rumorende Strasse, zwitschernde Vögel, Schritte auf dem Kies. Für die Aufnahmen – sogenannte Field Recordings – kamen unterschiedliche Mikrofone zum Einsatz. Darunter etwa ein Hydrophon, das die Klänge fliessender Bewegungen unter Wasser aufnimmt. Oder ein Breitbandempfänger, der die für Menschen nicht wahrnehmbaren elektromagnetischen Felder registriert. So erhält der Selecta-Automat beim Bahnhof mit kratzigen Geräuschen eine ganz eigene Präsenz.

Die Aufnahmen wurden von der Künstlerin zu einer «Soundscape Composition» verarbeitet. Sie sind nicht chronologisch und werden auch nicht rein dokumentarisch verwendet. Vielmehr eröffnen sich durch die Sounds neue Klangräume, die sich zur realen Umgebung während des Spaziergangs verhalten. Indem Martina Lussi mit verschiedenen Lautstärken spielt, verwebt sich die Komposition mit umgebenden und körpereigenen Geräuschen wie der Atmung oder Schritten. Das Mäandern zwischen diesen Klangrealitäten lässt eine fast schon traumähnliche Landschaft entstehen.

Der Soundwalk kann auf dem Weg zum Kulturort Weiertal oder direkt im Garten auf den eigenen Kopfhörern gehört werden und ist über entsprechende QR-Codes abrufbar.

Soundwalk Weiertal, 2023; Audio, Stereo
https://martinalussi.com/Soundwalk-Weiertal

Vanessa Billy

Was kriecht da gerade an Land? Die schwimmende Skulptur Hellbender erinnert an ein Amphibium, das sich mit schwungvollen Bewegungen seiner Wirbelsäule den Weg aus dem Weiher bahnt. Als Vorlage diente der Künstlerin das Fossil eines Salamanders, der vor über fünf Millionen Jahren am Bodensee lebte. Heute sind seine Relikte Teil der Sammlung des Paläontologischen Museums der Universität Zürich.

Das fünf Meter lange, archaisch anmutende Wesen ruft die Evolution vom Wasser ans Land in Erinnerung und lässt gleichzeitig an ein postapokalyptisches Szenario denken, in dem der Einfluss des Menschen noch immer nachwirkt. Indem Vanessa Billy ihre Skulptur aus rezykliertem PET anfertigte, stellt sie die Frage in den Raum, welche Folgen unser Konsum – und eine auf Profit angelegte Wirtschaft, die diesen ankurbelt – für die Zukunft hat.

Mit dem ökologischen Fussabdruck des Menschen auf dem Planeten setzt sich die Künstlerin auch in ihrer Skulptur Thorns and Crowns auseinander, die im Ausstellungsraum zu sehen ist. Die zwei Objekte aus Aluminium gehen auf das Reifenprofil eines Traktors zurück; sie wirken wie Pflanzen oder Tiere zugleich und spielen mit unserer Vorstellung von «Künstlichkeit» und «Natürlichkeit».

Sowohl Hellbender als auch Thorns and Crowns sind Ausgangspunkte eines posthumanen Gedankenspiels: Mit ihren Skulpturen lässt Vanessa Billy an eine Welt denken, in der das vermeintlich tote Material zum Leben erweckt wird; zu einem Wesen mit eigenem Willen, das sich in sich aufwickelt – oder gerade an Land kriecht.

Hellbender, 2023; 3D-Druck aus rezykliertem PET
Thorns and Crowns,
2021; Aluminium

Brigham Baker

Da stapeln sie sich, die Reifen, die längst ausgedient haben. Über welche Strassen sind sie wohl gerollt, um nun ausgerechnet hier zu landen? Denn hier, in diesem gepflegten Garten mit so viel natürlichem Dekor, sind sie offensichtlich fehl am Platz. Obwohl die Installation Environs von Brigham Baker zunächst an eine dystopische Assemblage denken lässt, in der die Reifen für alle Zeiten ausgedient haben, birgt die Installation auch utopisches Potenzial. Vielleicht kann sich an diesem Ort, der nun sanft ausgeleuchtet wird, ein kleines Ökosystem entfalten.

Dass ausgerechnet eine durch unsere industrielle Welt geschaffene Nische zu einem florierenden Ökosystem werden kann, zeigte eine US-amerikanische Studie, die Anfang der 1990er-Jahre in den städtischen Gebieten Floridas durchgeführt wurde. Diese ergab, dass mehr als die Hälfte der Moskitos in ausrangierten Reifen aus ihren Larven schlüpfen. Dieser Anteil steigt proportional zur zunehmenden Verstädterung. Wagen wir also ein Gedankenexperiment: Wenn die Reifen über längere Zeit in diesem Garten bleiben, könnten sie vielleicht einen ökologischen Zweck wie jenen des nahestehenden Weihers übernehmen. Solch künstlich angelegte Teiche waren charakteristisch für die Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. Ihre ästhetische Wirkung sollte eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur schaffen. Erst nach und nach erkannte man ihre ökologische Funktion.

Trotz ihrer industriellen Form und Materialität, wohnt den Reifen die Möglichkeit inne, einen wertvollen Lebensraum entstehen zu lassen. Umso mehr scheint es in Anbetracht dessen sinnvoll, die Trennung zwischen menschen- gemachten und vermeintlich natürlichen Umgebungen infrage zu stellen.

Environs, 2023; Reifen, LED

Ishita Chakraborty

Saris in unterschiedlichen Farben ziehen sich durch den Garten, bilden eine Grenze, die nicht starr ist, sondern weich und beweglich bleibt. Mit der Installation The Songs of Resistance bezieht sich Ishita Chakraborty auf die Region Sundarbans, die sich an einem Delta im Osten von Indien befindet. Dort wird die Kleidung auch als Zaun genutzt, um beispielsweise ein angelegtes Beet vor Tieren zu schützen.

Ishita Chakraborty ist in Kolkata aufgewachsen und hielt sich in den letzten Jahren immer wieder in Sundarbans auf. Im Rahmen ihrer Recherchen sprach sie mit vielen Frauen aus der Region über die mehrfachen Belastungen, denen sie ausgesetzt sind: Sie kümmern sich um die Arbeit im Haushalt, auf dem Feld und pflanzen neue Mangroven, um das Land vor weiterer Erosion zu schützen. Allerdings verändert sich das Klima und der Meeresspiegel steigt weiter an, weswegen ihre Lebensgrundlage zusehends schwindet. Ihre jeweiligen Partner sehen sich aus finanziellen Gründen gezwungen als Saisonarbeiter in anderen, oft touristischen und schnell wachsenden Regionen auf Baustellen zu arbeiten.

Wie wichtig es ist, soziale und ökologische Fragen nicht getrennt voneinander zu denken, kommt auch in der Soundinstallation A Vessel Full of Hope zur Sprache. Der Sound dringt aus sogenannten Handis, aus Töpfen, die in ländlichen Haushalten dazu genutzt werden, Getreide, Fisch oder Reis zu kochen oder zu lagern. Dabei ist das Rauschen des Meeres zu hören, der wehende Wind, rumorende Bootsmotore, sich unterhaltende Frauen. In dieser vielstimmigen Installation ist die Stimme von Abhra Chanda (School of Oceanographic Studies, Kolkata) zu hören, oder jene der Künstlerin: In einer Passage liest sie aus dem Buch Ökofeminismus von Maria Mies und Vandana Shiva. Darin weisen die deutsche Soziologin und die indische Aktivistin und Theoretikerin auf die Tatsache hin, dass grenzenloses Wachstum Gewalt gegen die Natur, gegen Frauen und Menschen des globalen Südens zur Folge hat. Sie schreiben: «Eine ökofeministische Perspektive propagiert dagegen die Notwendigkeit einer neuen Kosmologie und einer neuen Anthropologie, die erkennt, dass das Leben in der Natur (einschliesslich der Menschen) durch Zusammenarbeit und gegenseitige Liebe und Pflege bewahrt wird.» (Maria Mies und Vandana Shiva, Ökofeminismus. Beiträge zur Praxis und Theorie. Zürich: Rotpunktverlag 1995, S. 13)

    The Songs of Resistance, 2023; Handi, Holz, Stoff
    A Vessel Full of Hope,
    2023; Audio, Stereo

    Dorota Gawęda & Eglė Kulbokaitė

    Wessen wird hier mit Votivgaben gedacht? Der Natur, die einmal war und heute mehr und mehr verdrängt wird? Wo bleibt die wundersame Rettung aus der Not, die eine Votivgabe gemeinhin feiert? Im Pavillon im Garten – von der Familie von Meiss liebevoll Datscha genannt – verbinden sich zwei historische Vorbilder: der malerische englische Landschaftsgarten und das private Wochenendhaus aus der baltisch-slawischen Kultur. Sowohl Erholung als auch Zuflucht in der romantisierten Natur versprachen einst beide. Die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit bleibt hier allerdings nicht ein nostalgisches Schwelgen in vergangenen Zeiten, im Gegenteil: Sie weist auf eine neue, lebenswerte Zukunft hin. Die Blumen sind durch und durch artifiziell, verblühen nicht und können Erinnerung, Mahnmal und Neuanfang zugleich sein.

    Die Installation Freestanding Votive Flowers (I–VII) von Dorota Gawęda & Eglė Kulbokaitė wird durch ein Video ergänzt und bezieht weitere Aspekte ihres künstlerischen Schaffens ein. In Mouthless Part II (Retrograde Sequence), das während eines Screenings im August zu sehen ist, kommt die Ästhetik der Landschaftsmalerei ins Spiel – diesmal als morphende GAN-Animation, als algorithmisches Verfahren, das hinter Deep Fakes steht –, wobei Landschaften langsam ineinanderfliessen und sich ständig verändern. Bilder von Vergänglichkeit und transformativer Kraft stehen menschlich angefertigten und eindimensionalen Kategorien von «Natur» und «Kultur» gegenüber.

    Freestanding Votive Flowers (I–VII), 2022; Edelstahl, LED-Blumen
    Mouthless Part II (Retrograde Sequence),
    2023; Video (HD, Stereo)

    Lithic Alliance

    Vor unseren Füssen öffnet sich eine Vertiefung. Unser Blick fällt auf längliche Objekte aus Keramik, die aus lokaler Erde geformt, dort ausgelegt und gebrannt wurden. Für Letzteres kam der Feldbrand zum Einsatz, eine Technik, die bereits vor über 5000 Jahren verwendet wurde, um Keramik zu härten. Nun weisen die Objekte kleine Kerben und ornamental wirkende Muster auf ihrer Oberfläche auf, die an Schuppen oder einzelne Wirbel erinnern, an versteinerte Pflanzen oder gar an die Spitze eines Pfeils. In ihrer Vieldeutigkeit bleiben sie ambivalent und lassen jegliche Antwort auf die Frage offen, aus welcher Zeit sie stammen. Dieser spekulative Charakter wird nicht zuletzt vom Titel der Installation aufgegriffen.

    Mit der Installation Fossile Fantasien knüpft Lithic Alliance an jene Themen an, denen sich das fluide Kollektiv immer wieder widmet: an die Überlegung etwa, dass es sich bei der Erde nicht einfach um tote Materie oder die simple Ansammlung geologischer Schichten handelt. Vielmehr ist sie Speicher von Begegnungen und Energien; eine lebendige Akteurin und Zeugin vergangener und gegenwärtiger Zeiten. Der Erforschung dieser Zeitlichkeiten hat sich der Mensch unlängst angenommen. So gleicht auch die Installation selbst einer archäologischen Ausgrabung: Ein Beispiel dafür ist das Raster der Überdachung, das als Mittel der Vermessung dient. Durch das orangefarbene Dach entsteht eine künstliche Atmosphäre in der Grube, die sinnbildlich für jenen Filter steht – den anthropozentrisch geprägten Blick – durch den wir unsere Umwelt zu erforschen suchen. Entsprechend ist auch der Einfluss des Menschen auf den Planeten ein zentrales Element für Lithic Alliance: Das Kollektiv setzt sich nicht zuletzt mit den Spuren auseinander, die der Mensch auf der Erde hinterlässt. Am Ende der Ausstellung werden die Objekte verschüttet – eine verdichtete Nachricht für die Zukunft?

    Fossile Fantasien – Zähne von heute beissen ins Ungewisse, 2023; Holz, Lehm, PVC, verzinktes Eisen

    Dunja Herzog

    Wie oft geraten Handwerke in Vergessenheit, werden durch neue, effizientere Varianten ersetzt? Dieser Frage widmet sich Dunja Herzog in der Installation HUM IV. Diese setzt sich aus drei Bienenkörben aus gebundenem Stroh zusammen. Während der Ausstellung finden drei Bienenvölker hier ihre Nisthöhlen. Die Körbe, die im europäischen Mittelalter entwickelt wurden, finden heute nur noch wenig Anklang: Verbreitet sind vor allem die Kisten aus Holz, die mit ihren eingesetzten Platten auf die grösstmögliche Extraktion von Honig ausgelegt sind, aber nicht darauf, eine adäquate Behausung für die Insekten zu schaffen.

    Das Interesse von Dunja Herzog für die Tätigkeit des Imkerns geht auf eine Residenz in Johannesburg zurück. Dort fertigte die Künstlerin gemeinsam mit dem Imker Thembalezwe Mntambo und dem Keramiker Cosmas Ndlovu verschiedene Bienenstöcke aus gebranntem Ton an. In Südafrika wurde im Rahmen dieser künstlerischen Recherche nicht nur der Umgang mit Ressourcen zum Thema, sondern auch deren Verteilung: Auch drei Jahrzehnte nach der Apartheid sind über 70 Prozent des Landes im Besitz einer weissen Minderheit.

    Die Bienenkörbe im Garten werden von der Soundinstallation HUM erweitert, die im Ausstellungsraum das Summen von Bienen in Erinnerung ruft. Der Sound entstand mit Instrumenten aus Messing – von denen eine Auswahl im gleichen Raum zu sehen ist – und in Kooperation mit verschiedenen Musiker*innen.

    Nicht zuletzt möchte Dunja Herzog jenen Objekten, die nun als Skulpturen funktionieren, eine zukünftige Nutzung zugestehen: Nach der Ausstellung wird die Imkerin Sabine Mühle die Körbe weiterverwenden.

    HUM IV, 2022/2023; Bast, Kuhdung, Lehm, Roggenstroh
    HUM, 2022; mit Adey Omotade, Damola Owola de Dion Monti, Gugulethu «Dumama» Duma, Elsa M’bala, Grace Kalima N. / Aliby Mwehu, Jill Richards, Rikki Ililonga; Audio, Stereo
    Jiggling Brass, 2018-2022; Messing

      Thomas Julier

      Die Beobachtung von Tieren in ihrem Habitat geschieht aus unterschiedlichen Motiven: als freizeitliches Vergnügen für Bildung und Erholung oder im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. Diese Interessen stehen oft im Widerspruch zueinander, prägen den menschlichen Blick und nehmen dadurch Einfluss auf die Koexistenz von Mensch und Tier.

      Dieser Überlegung nachgehend hat Thomas Julier in einem naheliegenden vom Biber geprägten Biotop Wildtierkameras installiert. Der einst ausgerottete Nager schafft seit seiner Wiederansiedlung in der Schweiz artenreiche Lebensräume. Einen dieser Lebensräume beobachtet der Künstler mit Kameras. Sie registrieren Bewegungen, zeichnen sie auf und speichern die Aufzeichnungen in der Cloud. Die Bilder sind über einen entsprechenden QR-Code einsehbar, den Thomas Julier im Garten auf einem Emaille-Schild platzierte. Das Schild erinnert an herkömmliche Wegweiser, Orts- und Strassenschilder und funktioniert als Eingang in die virtuelle Welt. Einmal gescannt, gelangen die Besucher*innen zu einem Login, das ihnen Zugang zu einer Datenbank verschafft. Dort sehen sie sowohl Schnappschüsse der Wildtiere als auch die Aktivitäten der menschlichen Besucher*innen und können mit dem Bildmaterial interagieren.

      In Vault on a Cloud verknüpft Thomas Julier einen «wirklichen» Raum – den Garten im Weiertal – mit einem virtuellen – der Datensammlung und ihrem Interface – und schafft so einen hybriden Raum, dessen Dimensionen von der gleichzeitigen Präsenz von Mensch und Tier markiert werden. Die Datensammlung wächst im Verlauf der Ausstellung zu einem Volumen an, dessen plastische Qualitäten er als Skulptur versteht. So lädt uns Thomas Julier dazu ein, vertraute Vorstellungen zu revidieren und über zeitgemässe Massstäbe bei der Definition jener Lebensräume nachzudenken, die wir zusammen mit anderen Spezies gestalten.

      Vault on a Cloud, 2023; Daten, Emaille-Schild, Interface, Solarpanel, Wildtierkamera mit SIM-Karte

      Hanne Lippard

      Haben zwei Menschen dieselbe Sicht auf eine Wolke, wenn sie am selben Ort stehen? Machen sie die gleichen Beobachtungen, spüren den gleichen Regen? Hanne Lippard nimmt in ihrer Soundinstallation Locus die Fragen subjektiver Wahrnehmung zum Ausgangspunkt eines sprachlichen Spiels. Rhythmisch umkreist die Stimme der Künstlerin eine intime Situation zwischen zwei Personen, die sich an einem Ort – einem «Locus» – begegnen. Zwei Lautsprecher, zwei Positionen und ein Text; einmal vorwärts, einmal rückwärts gesprochen. Auf einzigartige Weise bringt die Installation die individuelle Erfahrung desselben Moments zum Ausdruck. Wie viel Nähe oder gar Intimität erfordert es, mit einem Menschen in Kontakt zu treten und sich auszutauschen? Ist Nähe gleichbedeutend mit Konsens und Distanz gar mit Dissens? Reicht die Wahrnehmung des jeweils anderen Standpunkts, um eine vielschichtige Situation zu erfassen? Hanne Lippard verweist mit diesen Fragen auf die Verhandlung des «Common Ground», von geteilten Perspektiven, Meinungen und Werten.

      Heute – rund zwölf Jahre nach der Entstehung des Werks – interpretieren wir ihre Fragen vor dem Hintergrund der Manipulation von Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Fragmentierung in Teilöffentlichkeiten im sogenannten postfaktischen Zeitalter (siehe dazu: Nicola Gess, Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes & Seitz 2021). So kann der Grund, auf dem wir stehen, auch ins Wanken geraten.

      Locus, 2011; Audio, Stereo

      Sarah Hablützel & Marko Mijatovic

      Wie kann ein Raum möglichst gemeinschaftlich und vielfältig genutzt werden? Diese Frage lieferte Sarah Hablützel & Marko Mijatovic den Impuls für die installative Arbeit Shared Space I. Als «Ort im Ort» konzipiert, wird er im Verlauf der Ausstellung zum Experimentierfeld unterschiedlicher Nutzungen. Im Juli dient er der lokalen Theatergruppe Um-18 als Bühne für ihre Proben und die Aufführung ihrer neuen Produktion. Im August wird er im Rahmen eines Workshops mit der Bewegungspädagogin Vivien Meyer aktiviert. Diese Protagonist*innen sind nicht neu, sondern waren schon Teil früherer Arbeiten des Duos.

      Die Architektur kann aber auch zum Zufluchtsort für die Besucher*innen werden; auf den Bänken können sie verweilen und Schutz vor der Hitze suchen. Diese unterschiedlichen Nutzungen werden nicht zuletzt durch die Form der Konstruktion verdeutlicht: Schaut man sie frontal an, erinnert sie an einen Bogen, der die Umgebung rahmt; blickt man seitlich auf sie, dann wirkt sie mit ihren länglichen Fenstern wie ein Haus, das vielleicht gar ein Gefühl von Geborgenheit erzeugen kann.

      Mit Shared Space I widmet sich das Duo sozialen und ökologischen Fragen zugleich. Die Installation besteht aus rezyklierbaren Materialien und einem Stecksystem, das einfach auf- und abgebaut werden kann. Das appelliert an die Idee, dass eine aktive Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit von Ressourcen und deren Umgang stattfinden kann. Die Gestaltung wird nicht zuletzt durch die Expertise jener Personen definiert, mit denen das Duo in Kontakt tritt. Für dieses Projekt suchten sie unter anderem den Austausch mit Architekt*innen und Hochbauzeichner*innen sowie mit dem Baubüro In Situ.

      Sarah Hablützel & Marko Mijatovic, die für ihre filmischen Arbeiten normalerweise die jeweiligen Drehorte aufsuchen, haben nun ihren eigenen Ort geschaffen. Im Verlauf der Ausstellung wird die Arbeit zur Kulisse verschiedener Szenarien.

      Shared Space I, 2023; Duripanel, Holz

      Uriel Orlow

      Wie viel Land braucht ein Mensch, um sich selbst zu versorgen? Diese Frage stand im Weiertal schon nach dem Ersten Weltkrieg zur Debatte und erhält mit dem sich verändernden Klima neue Dringlichkeit.

      Vor dem Hintergrund der damaligen Agrar- und Siedlungspolitik, der Urbarmachung von ungenutzten Flächen und der Industrialisierung der Landwirtschaft wurde das lokale Sumpfgebiet trockengelegt. Anfang der 1920er-Jahre bauten die Architekten Robert Rittmeyer und Walter Furrer die Siedlung Weiertal. Bedingt durch die damalige Lebensmittelknappheit erhielt jede Familie eine Juchart Ackerland, um sich selbst zu versorgen. Das entspricht jener Fläche, die ein Gespann Ochsen an einem Tag pflügen kann. Uriel Orlow aktualisiert mit seiner Installation Juchart 2049 das Anliegen der Selbstversorgung für die nahe Zukunft. Dafür hat er die je nach Terrain und Klima variabel definierte Fläche – in der gemässigten Zone 33 × 33 Meter – die heute für eine pflanzenbasierte Ernährung notwendig ist, im Garten abgesteckt. Die Markierungen, die er nutzt, haben ihren Ursprung in der amtlichen Vermessung. Der so vermittelte Anspruch auf Eigentum, der oft nur für privilegierte Menschen möglich ist, steht im Kontrast zur gemeinsamen Ressource Land und zur Nahrungsmittelproduktion für die gesamte Weltbevölkerung.

      Im Ausstellungsraum setzen zwei digitale Zeichnungen weitere, historisch und geografisch definierte Flächenmasse in Beziehung zu Zeit, Arbeit und zueinander. Bei der Betrachtung stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Umgang und der Verteilung von Ressourcen.

      Juchart 2049, 2023; Armierungseisen, Forstmarkierungsband
      Juchart 2049,
      2023; Pigmentdruck auf Papier

      Thi My Lien Nguyen

      Da stehen sie, die Tische mit ihren schwungvollen Flächen unter den sommerlichen Bäumen. Sie laden dazu ein, sich in das warme Gras zu setzen und dort zu verweilen; um sich auszutauschen, sich zu fragen: «Was hast du heute schon gegessen?» In der Installation Slices of Love nimmt Thi My Lien Nguyen den Tisch als Ort einer gemeinschaftlichen Praxis in den Fokus. Dabei steht vor allem das gemeinsame Essen im Vordergrund und die Überlegung, dass eine selbst zubereitete Mahlzeit als Zeichen der Liebe und Sorge verstanden werden kann.

      Allerdings stellt sich ein solcher Ort nicht selbst auf die Beine, sondern geht mit emotionaler Arbeit einher. Mit jener Arbeit also, die in einer kapitalistisch und schnell getakteten Gesellschaft gezielt unsichtbar gemacht wird – und oft auf den Schultern weiblich sozialisierter Personen lastet. Gegen diesen Umstand versucht die Künstlerin nun Widerstand zu leisten: Ihre Installation wird zum Ort der Ruhe und der Reflexion über den Wert reproduktiver Arbeit in unserer Gesellschaft. Dies soll unter anderem im Rahmen einer Veranstaltung im Juli möglich werden. Während ihrer Aktivierung Tea & Slices of Love lädt die Künstlerin zu Tisch und serviert vietnamesische Köstlichkeiten, Obst und Tee.

      Thi My Lien Nguyen schärft unseren Blick für alltägliche und vermeintlich selbstverständliche Dinge: Selbst das simple Schälen und Schneiden von Obst kann Ausdruck von Zuneigung oder Zuwendung sein und Gefühle zum Ausdruck bringen, die sich nicht in Worte fassen lassen.

      Slices of Love, 2023; Fotografie, MDF, Stahl

      Nicolas Buzzi und Harmony

      Was für ein Geräusch dringt hier in unser Ohr? Für die Ausstellung im Weiertal haben Nicolas Buzzi und Harmony ein Instrument konstruiert, das durch Wind aktiviert wird. Auf einem Dreibein-Stativ wurde eine transparente Fahne platziert, die – sobald sie in Bewegung versetzt wird – die darunter hängende, zylinderförmige Glocke zum Klingen bringt. Die Installation Wind of Change setzt formal auf ästhetisierte Funktionalität. Das Stativ wurde aus genormten Bauelementen hergestellt, die normalerweise für Bühnen verwendet werden. Indem die Elemente nun zweckentfremdet wurden, gleichen sie einem Spektakel, das durch die wehende Fahne und durch das Läuten der Glocke verstärkt wird.

      Neben den formalen Aspekten sticht auch das unübliche Material der Fahne ins Auge. Die Polyester-Folie wird in der Raum-, Luft- und Seefahrt eingesetzt und hält extremen Witterungen stand. Die Künstler*innen verzichten mit der Verwendung dieses Materials bewusst auf eine klar repräsentative Symbolik. Ohne Sujet oder Farbe wird sie zur Projektionsfläche verschiedener Bedeutungen und eröffnet Raum für utopische Vorstellungen und spekulative Gedanken. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die eine Utopie überhaupt erst möglich machen, ereignen sich prozesshaft, indem Werte und Normen fortwährend infrage gestellt werden und zukunftsfähige Ideen entstehen können. Das Wehen dieser Fahne ist denn auch nicht weich und leise, sondern durch das solide Material laut, ja fast schon beunruhigend. Schliesslich kann auch Veränderung beunruhigend sein, Unsicherheiten auslösen und neue Fragen in den Raum stellen. So ist auch der «Common Ground», also die Grundlage für diese Aus- und Verhandlung, immer angreifbar, immer unsicher. Darauf wies die US-amerikanische Theoretikerin Donna Haraway in ihrem Buch Unruhig bleiben hin. Sie schlägt vor, unruhig zu bleiben, aus alten Erzählungen, überlieferten Denk- und Verhaltensmustern auszusteigen. Eben Mut zur Beunruhigung zu haben (siehe dazu: Donna Haraway, Unruhig bleiben, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2018).

      Wind of Change, 2023; Aluminium, Mylar, Nylon, Stahl

      Reto Pulfer

      Reto Pulfer verknüpft sein künstlerisches Schaffen mit der Arbeit in seinem Garten zu einem gesamtheitlichen Werk. Pflanzen und ihre natürlichen Zyklen sind die Basis seiner Tätigkeit – sei es als Künstler, Autor, Musiker, Performer oder Gärtner.

      Für die Ausstellung im Weiertal legte er eine ovale Bodenarbeit im Garten an. Darin schlängelt sich ein Beet, bepflanzt mit Brennnesseln und Goldruten, die er in der Nähe ausgegraben und transplantiert hat. Indem er das Beet mit weissem, künstlich wirkendem Kies umgab, lehnt er sich an die barocken Landschaftsgärten des 16. Jahrhunderts an. Auf diese Art und Weise schafft Reto Pulfer eine Situation, in der die Idee einer ästhetisch und künstlich angelegten Anlage auf heimische Wildpflanzen und invasive Neophyten trifft; auf jene Pflanzen also, die als Unkraut gelten, obwohl sie wertvoll für Insekten sind und heilend wirken. Die Installation Nesselschlange (Regenwurm) gleicht einem Habitat, das mit Pulfers ökologischen Science-Fiction-Roman Gina, ein zuständiger Roman korrespondiert. Fantastische Wesen zwischen Mensch, Pflanze und Tier sind die Protagonist*innen einer postapokalyptischen Welt. Auch ein magischer Brennnesselhain ist Teil davon. So imaginiert der Künstler und Autor eindringliche Momente voller Fabulierlust, Poesie und Anspielungen auf unsere Gegenwart.

      In diesen Kosmos integriert Reto Pulfer auch gebrauchte Textilien, darunter Kleider oder Bettlaken, was im Ausstellungsraum ersichtlich wird. Das Werk Phänologischer Pflanzkalender wurde mit Goldrute eingefärbt; es zeigt einen Kalender, der sich etwa nach dem Blühen von Pflanzen orientiert.

      Nesselschlange (Regenwurm), 2022; Holz, Metall, Pflanzen, Schnur, Steine
      Phänologischer Pflanzkalender,
      2023; Pflanzliche Farbe, Stoff

      Miriam Rutherfoord & Joke Schmidt

      Laut dem Bundesamt für Umwelt wurde ein grosser Teil der Routen, auf denen sich Wildtiere bewegen, durch Strassen und Schienen unterbrochen. In der Schweiz ist heute weniger als ein Drittel dieser Routen intakt. Um Abhilfe zu schaffen, werden seit den späten 1990er-Jahren sogenannte Wildtierpassagen gebaut, die etwa als Brücke über Autobahnen errichtet werden, und die unterbrochenen Wege wieder miteinander verbinden sollen.

      Für ihre Videoinstallation Baummarder, Biber, Dachs,… haben Miriam Rutherfoord & Joke Schmidt verschiedene Wildtierpassagen gefilmt. Auf den ruhigen, dokumentarisch angelegten Aufnahmen werden allerdings nicht die Bauwerke als Ganzes sichtbar, sondern einzelne Elemente davon. Dabei treten skurrile Szenarien zutage. Angehäufte Äste wurden strategisch platziert, um die Tiere auf die Passagen zu lenken; Büsche wurden gepflanzt und Tümpel angelegt, um die ökologische Infrastruktur wiederherzustellen, die einst zerstört wurde. Dabei spielt der Ton eine wichtige Rolle: Das Geräusch fahrender Autos ist aus dem Off zu hören, begleitet die vermeintlich idyllischen Szenerien und stellt unsere Vorstellung von einer naturbelassenen Umgebung infrage.

      Das Video der Künstlerinnen entstand zwar für die Ausstellung im Weiertal, ist allerdings nicht als abgeschlossenes Projekt zu verstehen; vielmehr ist es eine langfristige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Menschen zu seiner unmittelbaren Umgebung.

      Baummarder, Biber, Dachs, Eichhörnchen, Feldhase, Fuchs, Gämse, Hermelin, Iltis, Luchs, Mauswiesel, Reh, Rothirsch, Wasserspitzmaus, Wildschwein, 2023; Video (HD, Stereo)

      Raul Walch

      Das Hissen einer Flagge ist eine aufgeladene Geste: Sie kann politische Markierung von Territorien und identitätsstiftend für Gemeinschaften sein, aber auch banaler Werbeträger oder reine Dekoration. Wie interpretieren wir eine Gruppe wehender Fahnen in Zeiten gesellschaftlicher Spaltungen und politischer Polarisierung? Im Hinblick darauf sind Fragen der Teilhabe im öffentlichen Raum äusserst aktuell. Raul Walch verwendet abstrakte geometrische Muster für die Gestaltung seiner Fahnen und bietet damit eine offene, gemeinschaftsstiftende Lesart. Nicht zuletzt interessiert er sich für das aktivistische Potenzial, das seiner Installation Dressing the Wind innewohnt, und verknüpft sie mit ökologischen Überlegungen. Die Installation besteht aus leichten Textilien, die er aus vorangehenden Werken rezykliert und in neue integriert hat. Die Kräfte der Natur spielen ebenso eine Rolle: Der Wind wird zum Akteur und gestaltet mit, lässt die Flaggen tanzen, mal im Takt, mal ganz für sich.

      Das soziale Engagement von Raul Walch zeigt sich auch anhand verschiedener Werke im Ausstellungsraum. Für das Projekt Azimut hat der Künstler mit Gruppen geflüchteter Menschen an der griechischen Grenze in Idomeni und auf der Insel Lesbos gearbeitet. An der Küste sammelten sie Reste von Planen und Zelten und bauten daraus Drachen, die als Warnsignale für die Küstenwache und folglich für die Rettung von Menschen auf der Flucht dienen können. Ein kinetisches Mobile aus dem Material dieser Zusammenarbeit und eine Reihe von Fotografien zeugen von seinem Interesse an mechanischen Prinzipien: nie im Stillstand, immer in Bewegung.

      Dressing the Wind, 2023; Acrylfarbe, Seil, Stahl, Stoff
      Azimut Mobile,
      2016– ; Acrylfarbe, Aluminium, Seil, Stein, Stoff, PVC
      Azimut,
      2016; C-Print auf Aluminium