21.5.–10.9.23

Ziegenverschränkung – Auftakt zu einem Experiment

Essay von

Sarah Elena Müller

Erst mal die Ausgangslage kurz erklärt. Ich hier – die Ziege dort. Dazwischen ein Zaun, unter ihren Hufen Gras, unter meinen Fusssohlen ebenso. So stehen wir. Da stehen wir. Common Ground. Es gibt keine unabhängige Wirklichkeit, der wir uns forschend annähern könnten, ohne selbst mit mindestens einem Fuss oder Huf drin zu stehen. Davon gehen wir aus. Common Sense.

Die Ziege hebt an und will Ablauf und Methodologie des Experiments erklären, aber ich unterbreche sie schnell. Erst mal ein Exempel durchstatuieren, am Wort.

Schön nach Menschenart. Denn dieser «Common Sense» zum Beispiel, was ist das jetzt nochmal? Müsste mich das nicht misstrauisch machen, dieses geistige Allgemeingut? Irgendwas, wovon wir alle glauben, es gleichermassen zu besitzen. Gemeinsamkeit und Gültigkeit, Raum und Zeit, auf die wir uns verhandlungsfrei berufen können? Doch nicht etwa.

Die Ziege, nun etwas näher am Zaun, wirft ein, dass manche das auch mit «gesundem Menschenverstand» gleichsetzen. Ein Schauer zieht durch ihr Fell. Nichts anderes als eine volkstümliche Übertragung des guten alten Realismus nach Newton. Dieser Menschenverstand, der sich immer noch in einer aussenstehenden Warte der Vernunft wähne, seine Einschätzung nicht als zutiefst verstricktes Phänomen begreife. Dieser unverschränkte Menschenverstand sei die beschränkteste, ja gefährlichste Dynamik unserer Zeit.

Da sind wir uns also einig, die Ziege und ich. Common Sense ist situativ anpassbar an private Interessen. Die Ergebnisse: Vorteilsnahme, Ausbeutung, Bedeutungsschwund. Heute auf dem Menü, ethisch zubereitete Nachhaltigkeitsschummelei sur son lit de greenwashed Achtsamkeitsspinat. Gesundheit, Mensch! Und Prost Mahlzeit!

Die Ziege trottet zum Zaun und reibt ihren juckenden Hüftknochen an einem der Holzpfosten. «Haben wir nun genug rumgemeckert, Menschenkind? Können wir jetzt mit unserem Experiment beginnen? Wir wollten doch den Begriff des Gemeinsamen erweitern.»

Etwas pikiert schlucke ich den Rest meiner Gastropolemik herunter. Diese Ziege will mich wohl einschränken, statt sich mit mir zu verschränken. Aber die Ausgangslage will ich schon mitgestalten, das muss ihr klar sein. Ich gehe von mir aus. Ich bin das Zentrum meiner Menschlichkeit.

«Bist du als Ziege etwa nicht site specific und species specific zu􀀀 gleich?», frage ich die Ziege. Wie zur Bestätigung nimmt sie Reissaus und macht ein paar verrückte Hüpfer aus dem Stand. Wie kann sie sich bloss so unverschämt locker geben in einem wissenschaftlichen Setting? «Ich sehe doch, wie du da leibst und lebst und grast und eckiger wirst. Dein Verständnis für die Welt, inwiefern unterscheidet es sich denn von der Fläche, auf der du just gerade mampfst und kackst? Wir können doch das übersteuerte, globale Chaos nicht ausschliessen, wenn wir uns hier verschränken!», rufe ich ihr zu und verschränke jetzt probehalber meine Arme, denn ich manage meine Unsicherheiten echt gut.

«So eindeutig und kompromisslos wie du mir das Ziegentier attestierst, bist du doch auch eingezäunt in dein unflexibles Selbstverständnis, Menschenkind. Sprache willst du dir verschrieben haben. Als Heilmittel und zivilisatorisches Instrument. Und definierst dir ein schizoides Menschensystem der Begrenzung und Trennung herbei, wo du die Nähe von Wort und Welt nicht erträgst», gibt die Ziege zurück und dreht sich von mir weg. Ihr fransiger, kurzer Schwanz wedelt vergnügt über ihrem Anus. Die Bestie verhöhnt mich. Sie ist nicht nur genauer als ich, sie amüsiert sich sogar noch dabei.

Ich stehe am Zaun und rege mich auf. Noch bevor das Experiment losgegangen ist. Was hatte ich mir denn von dieser Begegnung erwartet? Mehr Liebe, mehr Zuwendung, mehr Offenheit und weniger Prinzip. Weniger Ziegenprinzip. Ich versuche mich an den genauen Wortlaut der Ausschreibung zu erinnern. Suchen menschliche Proband*innen für experimentelle Verschränkungen verschiedener Spezies? Testperson für quantenmechanische Kapriolen? Und war es das zoologische Institut gewesen oder der Fachbereich Physik und Astronomie? Was hatte ich mir eingebildet, mich dieser Ziege öffnen zu wollen? Mir schwindelt.

Ob ich vielleicht noch ein paar Spannungen loswerden wolle, schlägt die Ziege vor, die meinen Zustand registriert zu haben scheint. Das bringe bestimmt Erleichterung, ich sei so bleich plötzlich.

«#Filter Bubble Politik #Schmuck mit Tags und Likes #Kompromisslosigkeit der Kunst #Meinungsfickerei #Urteilsfisterei #Haltungsschleckerei #Damen und Herren binäre Persönlichkeitsausstattung #als Mensch getarnte Zombies #als Sinn getarnte Optimierung #als Verdienst getarnter Profitzuwachs #als Innovation getarnter Verantwortungsabbau #als Tarnmantel übergeworfene Diskretion #Unternehmenskultur #Schweiz #Schwiiz #Zug #Baar #Bodenschätze #Rohstoffe #Glencore», schiesst es unkontrolliert aus mir heraus.

Aus diesem Erbrochenen kann ich nur lesen, dass irgendetwas in mir der Ziege schon näher ist, als mir bewusst war. Da stehe ich. Ein Tier, das auf seinem kleinen Wiesenstück bockig die Hufe in die Erde stemmt, entgegen der Witterung, wider die Dynamik des Aushandelns, unempfänglich für die Bewegungen des Mitgefühls. Ist sie das? Die richtige Richtung? Muss ich mit Glencore Empathie üben? Ich stehe am Berg und am Zaun und nage daran, ich beisse mir die Zähne aus an dieser Zeit, an meiner Schuld in ihr.

Die Ziege hat sich dem Zaun wieder genähert, legt den Kopf schräg und betrachtet mich aus goldenen Augen. Ob ich auf ihre Seite rüberkommen und ihr berichten wolle, welche Verhärtungsvorgänge in mir wirken?

Instinktiv mache ich einen Schritt zurück. Bin ich bereit für ihr Verständnis?

«Dies wird die härteste Erweichung, die du in deinem Leben je erfahren wirst. Nicht Glencore braucht dein Mitgefühl, konfuses Menschenkind. MICH wirst du empfinden müssen. Deine konstruierte Zentrale verlassen, ins Ungewisse diffundieren.» Es wird nicht leicht, verheissen die rechteckigen Ziegenpupillen.

Ich ahne es.

«Aber weisst du auch, warum? Weil dich – also euch – euer Menschenprinzip weit gebracht hat. Damals, als die Dehnbarkeit von Zeit und Materie eine reine Glaubensfrage war. Und wir Quantenziegen noch unentdeckt. Wir leben in derselben Zeit, Menschenkind – aber wir leben nicht im selben Zeitgeist. Darüber hinaus, und hier zitiere ich gerne das Motto einer mir sehr teuren und weisen Ziege: Der Zeitgeist ist stets ein Scheissgeist. Und diese Zeitziege war Zeitzeugin, immerhin.»

Ein bisschen Respekt würde mir gut stehen, denke ich und halte mich am Zaun fest. Warum diese störrische Abwehr? Da ist er doch bereits, der Ziegengeist in mir. Verschränkung, Verschränkung. Und wäre ich von allen guten Zeitgeistern verlassen, verschränkt mit dem Ziegengeist, nicht wahrhaftig, ein besserer … Mensch?

«The grass is always greener, but the other side is not the other», nickt die Ziege.

Und was ist der Ziegengeist nun im Kern? Eine mit Natur, Boden und Urgründen zutiefst verbundene Energie? Mystisch mit den Zyklen des Lebens verwobene Materie?

Die Ziege schüttelt enttäuscht den Kopf und beginnt wieder zu grasen. Ich sei wohl doch noch nicht so weit.

«Doch, halt! Komm zurück!», rufe ich, «das war doch bloss ein Scherz, mit der Naturnähe. Eine kleine essenzialistische Provokation.» Ich wisse wohl, dass nichts an ihr natürlicher sei, als an mir. Natürlich wisse ich das.

«Ironische Herrschaftsgesten, soso …», kommentiert die Ziege unbeeindruckt «Und was kommt als Nächstes? Die Ästhetik der Gewalt?» «Ja, vielleicht. Vielleicht will ich noch einmal das Seziermesser ansetzen dürfen. Die Dualismen voneinander trennen, sie herstellen – fein säuberlich. Das Besteck hervorholen und den quantenmechanischen Eintopf in distinkte Gegenüberstellungen schöpfen. Zerkleinern, zerstückeln, fressen und spalten, wie Moses das Wasser und das Blut die Erde und das Salz als Säule aus Frau zu Stein.»

«Was laberst du bloss für einen Bockmist», lacht die Ziege. «Ich will aber Bockmist labern, Ziege. Um Zeit zu schinden nochmal den finalen Showdown ausrufen: Tonight in your town – the most spectacular fight of the century. Matter versus Discourse. It’s fantasy, it’s splatter, it’s quantic, it’s beyond, it’s the last big epistemic showdown, my hochverehrtes Publikum.»

«Da bist du aber ganz schön in der Kultur gelandet», bemerkt die Ziege. «Also im Departement Kultur und Sport. Und dort kramst du nach Metaphorik, in der Ertüchtigung? Im Kampf? Seltsame Wendung. Wir wollten doch die Verschränkung versuchen.»

«Das ist bereits ein Versuch, okay? MEIN Versuch das Welt- Wort-Verhältnis zu erschüttern. Genug wohlgewähltes Sprachballett. Ich will die gemeinsame Grundlage per quantische Perversion, durch Crash, Kollision und Selbstverschlingung herstellen.»

Die Ziege stellt gleichgültig kauend meine zur Drohgebärde verkommene Furcht fest. «Du willst etwas vollbringen, um der Hingabe auszuweichen. Sport, Sprache, Streit, Tanz – typisch, leider. Die Vermengung der Wellen und Teilchen ist bereits Status quo. Die Superposition unserer Grundsubstanz ist gegeben, die Abgrenzung von Zeit, Raum und Materie bereits durchlässig. Wozu also dieser Kraftakt, liebe Ziegenforscherin? Was willst du noch erschaffen, wo doch alles schon wirklich ist?»

Ich will es ihr erklären. Ihr klarmachen, dass mein geistiges Bauvorhaben einen Zweck hat, nämlich will ich Hierarchien herstellen und dann die oberen Stockwerke bewohnen. Wenn ich ehrlich bin. Aber die Scham schiesst mir in die Wangen, die Ziege hat mich und meine Ausweichmanöver längst durchschaut. Vom Abriss in die Konstruktion gekippt. Von der Selbsterweichung in die Selbstbehauptung.

«Die Erwähnung des Selbst allein ist für unser Experiment komplett widersinnig, Menschenkind. Das ist doch zum Lachen. Du kamst hierher, um dich mit mir zu verschränken, bist aber mental noch nicht einmal über den Zaun gestiegen.»

Wie um ihr zu beweisen, dass ich es immerhin körperlich schaffe, klettere ich über den Zaun. Er ist schon etwas verwittert, Splitter bohren sich in meine Handflächen. Wenigstens mit dem Holz bin ich nun verschränkt.

Vermutlich sei es schlicht das deutsche Wort, was mir solche Schwierigkeiten bereite, meint die Ziege. Verschränkung.

Nachdenklich kraule ich den Fellwirbel zwischen ihren Hörnern.

Klingt steif, ja. Eine Bewegung, die auf Schienen läuft, in Scharnieren hängt, über Kurbeln angetrieben und von Dämpfern abgefangen wird. Anorganisch. Tot.

«Deutsch ist eine ziemlich kybernetische Sprache», bestätigt die Ziege. Ob mir «Entanglement» vielleicht besser gefalle?

Ich nicke. Denke an verhedderte Wolle. An Stolpern über Schnürsenkel. Zweige im Haar.

Sarah Elena Müller

(*1990 in Affoltern am Albis) lebt in Bern. Sie arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Performance. Ihr Interesse gilt allen Formen von Text und Sprachlichkeit, technologischen und sozialen Entwicklungen. Dieses Jahr erschien ihr Roman Bild ohne Mädchen beim Limmat Verlag.